Predigt von Erzbischof Tichon am Sonntag der Vergebung in der Kathedrale der Auferstehung Christi in Berlin (14. März 2021)
Am Vorabend der Großen Fastenzeit erinnert uns die Kirche, liebe Brüder und Schwestern, an die Vertreibung Adams aus dem Paradies. Tief betrübt sitzt Adam an den Toren des Paradieses und vergießt Tränen der Reue. Er trauert bitterlich darüber, dass er Gottes Gebot gebrochen hat und sich der Freude beraubt hat, seinen Schöpfer und Gott von Angesicht zu sehen. Betrachten wir die Worte Adams, seine Klage und Reue: „Vor dem Paradiese saß Adam, mit Jammern die eigene Blöße beklagend. Wehe, durch schlimmen Betrug ward er berückt und beraubt und weit entrückt aus der Herrlichkeit. Wehe, der da nackend in Einfalt lebte, ist verlegen. Doch nicht mehr werde ich dein Leben der Wonne kosten, Paradies, nicht mehr schauen den Herrn, meinen Gott und Schöpfer. Denn zur Erde werde ich gehen, aus der ich genommen. Hab Mitleid, Barmherziger, ruf ich zu dir. Erbarme dich meiner, des Verirrten.“ Der Herr schaute auf Adam und nahm seine Reue an. Die Heilige Überlieferung sagt uns, dass Adam seine Sünde sechshundert Jahre lang beklagte, bevor sein Gewissen sich beruhigte und er die Zusicherung von Gott erhielt, dass seine Sünde vergeben sei. Zu dem von der Göttlichen Vorsehung bestimmten Zeitpunkt kam der Herr auf die Erde und rettete durch Sein Leiden am Kreuz und Seine Auferstehung Adam und seine Nachkommenschaft vor der Sünde und dem ewigen Tod.
Warum erinnert die Kirche uns an den Sündenfall und die Reue des Urvaters Adam? Weil sie uns den ganzen Schrecken der Sünde zeigen will, die den Tod in sich trägt (1. Kor 15,56), und das rettende Heilmittel dagegen – die heilige Buße. Gleich Adam beraubt auch uns die Sünde der ewigen Seligkeit und der Freude an Gott. Wir sind alle Sünder. Wir sündigen in jeder Stunde in Wort und Tat und im Denken, Tag und Nacht, und befinden uns in demselben Zustand wie bei Adams Sündenfall, das heißt außerhalb des Lebens, außerhalb der Liebe, außerhalb der Gnade Gottes. Der Weg der Rückkehr zu Gott führt über die Reue ob der Sünden, die Tränen der Zerknirschung und die Hoffnung auf Gottes Barmherzigkeit. Nach den Worten der heiligen Väter ist die Buße der Quell, in dem die Seele wiedergeboren wird und die verlorene Gemeinschaft mit Gott wiederfindet. Die Reue ist die Leiter, die uns an den Ort hinaufführt, von dem wir herabgestiegen sind. Wir müssen uns daran erinnern, dass die Tore des himmlischen Königtums und die „Tore der Buße“ ein und dieselben Tore sind, die den Bußfertigen immer offen stehen.
Wenn wir in die Großen Fasten eintreten, müssen wir wissen, wie wir fasten sollen. Die heutige Evangeliumslesung ist gerade diesem Thema gewidmet. Der Herr, der über die Notwendigkeit des Fastens spricht, lehrt uns, uns dabei nicht entmutigen zu lassen. Wir dürfen unser Fasten nicht nach außen hin zeigen, wir dürfen anderen nicht sagen, dass wir fasten, wir müssen die Tugend der Enthaltsamkeit in Reinheit und Keuschheit halten. „Präsentiert euch nicht traurig wie die Heuchler“ (Mt 6,16), gebietet der Herr denen, die fasten. Die Pharisäer kämmten sich nicht, schnitten sich die Haare nicht, trugen zerrissene und schmutzige Kleidung und bedeckten ihr Haupt mit Asche, um vor den Leuten als Fastende zu erscheinen. Lasst uns nicht die Pharisäer nachahmen, sondern alle Heuchelei und Falschheit ablegen. Der Herr gebietet: „Wenn du fastest, so salbe dein Haupt und wasche dein Gesicht“ (Mt 6,17). Der hl. Maximos der Bekenner sagt, dass unter dem Gesicht das Leben zu verstehen ist, das „wie ein Gesicht charakterisiert, wie wir innerlich sind. Der Herr befiehlt uns, dieses Gesicht zu waschen, das heißt, das Leben von allem Schmutz der Sünden zu reinigen. Das Haupt ist hingegen unser Verstand, den der Logos befiehlt, zu salben, d.h. mit göttlicher Erkenntnis zu schmücken“.
Dabei reicht es jedoch nicht aus, auf bestimmtes Essen zu verzichten, es ist auch notwendig, geistlich zu fasten. Das bedeutet, dass wir uns des Zorns, der Reizbarkeit, der Bosheit, des Neides und der Verurteilung enthalten sollen. Man soll sich so verhalten, dass nach den Worten des heiligen Johannes Chrysostomos Auge, Ohr, Füße, Hände und der ganze Körper fasten. Alles, woran wir uns gewöhnt haben, was uns besonders behagt, sollten wir von uns fernhalten, um unseren Willen zu erziehen und in der Tugend stärker zu werden. Damit das Fasten der Errettung dient, damit das Herz von den Sünden gereinigt wird und die Seele sich zu Gott erhebt, ist es notwendig, eine weitere Bedingung zu erfüllen, bevor man sich auf diesen Weg begibt: sich mit dem Nächsten zu versöhnen und einander um Vergebung zu bitten.
Es macht keinen Sinn, mit Hass, Feindschaft, Gereiztheit und Groll gegen irgendjemanden zu leben – und dann Verbeugungen zu machen, unser Fleisch zu demütigen und Worte des Gebets zu sprechen. Es gefällt Gott, dass wir unsere Beziehungen zu Ihm aufbauen durch unsere Beziehungen zu allen Menschen um uns herum. Deshalb sollen wir uns an diesem Sonntag, der seit alters „Sonntag der Vergebung“ genannt wird, miteinander versöhnen und um Vergebung bitten. Ich weiß, Brüder und Schwestern, dass einige aus objektiven Gründen nicht in der Lage sein werden, an der Vesper, dem ersten Fastengottesdienst, teilzunehmen. Deshalb bitte ich bei allen um Vergebung für meine freiwilligen oder unfreiwilligen Sünden, ob in Tat, Wort oder Gedanken begangen. Möge Gott in der Gnade und Großzügigkeit Seiner Menschenliebe uns allen verzeihen und uns gnädig sein und uns für die vor uns liegende Aufgabe der rettenden Fastenzeit stärken. Amen.